AGROS AG und Mitarbeiter mit “Schlitzen in den Ohren” – Kapitel 8

Polnische Abenteuer

1999 sah ich den Mitarbeiter mit den “Schlitzen in den Ohren”, Norbert Niegsch, wieder. Er stand eines Abends plötzlich mit einem verschüchterten kleinen 12-jährigen polnischen Jungen vor meiner Türe. Grzegorz hieß der Junge, er hatte einen urtümlichen Schneider-Computer unter dem Arm. Ob ich helfen könnte, Grzegorz hätte keine Software für den Schneider und keine Ahnung von Computern. Ich fand in meinen Beständen ein paar fünfeinviertel Zoll Disketten, die möglicherweise im Schneider laufen mochten und wurde dringend nach Luban eingeladen. Herr Niegsch wohnte jetzt dort. Grzegorz auch. 

Nun gut, ich bin also am nächsten Tag nach Luban aufgebrochen, an der zweiten Kreuzung nach rechts, dann nochmal rechts, danach links und dann nach der Schule und vor der Brücke nochmal links in einen Schotterweg, lautete die Wegbeschreibung. Norberts Handynummer hatte ich auch, ich möge anrufen, wenn ich kurz vor Luban sei, er würde mich dann bei der Tankstelle abholen. 

Ich fuhr also hin und rief kurz vor Luban an, die Wegbeschreibung klang mir zu suspekt, also trafen wir uns an der Tankstelle. Das war auch gut so, ich hätte den “Schotterweg” niemals für voll genommen. Auch die Ruine von Haus hätte ich wohl eher für unbewohnt gehalten. Teilweise waren die Fenster mit Brettern vernagelt und tiefe Risse durchzogen die Mauern. Es war ein typisches kleines zweistöckiges Häuschen aus Adolfs Zeiten und seit 1945 völlig verwahrlost, da sich Polen lediglich in einer Verwalter Rolle gesehen hatte.

Hier wohnt Grzegorz mit seiner Mutter und seiner Schwester, verkündete Norbert. Die marode Haustür war offen und Norbert marschierte hinein. Gleich die erste Tür links im Flur war sein Ziel. Ich sah einen kleinen Raum, der wohl als Küche genutzt werden mochte. an seinem hinteren Ende glänzte eine Ecksitzgarnitur aus DDR Zeiten mit dem üblichen Tischchen, davor stand eine Anrichte und ein Durchgang ins Nebenzimmer. Ein alter eiserner Holzofen mit Kochtopf oben drauf und eine Spüle sowie ein Gasherd mit Gasflasche ergänzten das fürstliche Inventar. “Pani Marischa” rief Norbert in das Nebenzimmer “robitch Kava!”. Marischa erschien. Max erschien auch, sah mich und startete sofort voll durch. Marischa erwischte ihn gerade noch am Halsband, so hatte Max nur meinen Pullover zwischen die Zähne bekommen. Max war ein Schäferhund mit grünen Augen und der Schrecken von ganz Luban. Er wurde erstmal wieder ins Nebenzimmer entsorgt, während ich auf der Sitzgarnitur deponiert wurde. Ein türkisch aufgebrühter Kaffee landete bei Norbert und mir, während sich ein unendlicher polnischer Wortschwall über uns ergoss. Der Besitzer des Schneider Computers war wohl noch nicht zugegen. Die Schwester auch nicht.

Grzegorz erschien, als wir den zweiten Kava weg hatten. Ich habe ihn dann erst einmal mein Auto entladen lassen. Ich hatte nämlich ein altes 386er Mainboard nebst Grafikkarte, Netzteil und 3 1/4 Zoll Diskettenlaufwerk in ein altes Gehäuse gepackt und auch noch eine 80 MB Festplatte gefunden. Nun mochte der Junge erst einmal DOS und danach Windows 3.11 installieren. Ich wurde in das Nebenzimmer der Küche genötigt. Die Couch sei doch gemütlicher als die Küche. Dort lag Max schon mit gefletschten Zähnen und das Nebenzimmer war eigentlich zwei Zimmer, eine große Schrankwand teilte nämlich den Raum, hinter der Schrankwand befand sich Gregorz “Zimmer”. Ich habe mich dann ziemlich schnell mit Max geeinigt, während zwei Polen und Norbert etwas entsetzt zusahen. Danach hatte ich nie wieder Probleme mit dem Hund. Nachdem Max zum Schmusekater avanciert war, erschien wieder mal ein Kava. Danach erschien Jolanta mit einem Kinderwagen. Eine Kamilla lag drin. Jolanta war Grzegorz Schwester und nun wusste ich, warum Norbert so an der Familie interessiert war.

Joli war ungefähr 22 und führte gerade einen Sorgerechtsstreit um Kamilla mit ihrem prügelnden Ex-Mann Adam. Der wohnte in Griffow. Ich habe später den Griffower Markt und den Parkplatz am Rathaus intensiv kennengelernt, wenn ich als moralische Unterstützung Norbert und Joli zur Kinderübergabe oder Übernahme dorthin begleitete.

Norbert Niegsch, Mario Schwarze, Uwe Ullrich, Uwe Schwanke, Hartmut Fournes, Roland Hultsch und ich gründeten im Jahr 2000 den Deutsche humanitäre Hilfe e.V., eines unserer ersten Projekte wurde in Polen Grzegorz, der früher Klebstoff geschnüffelt hatte und sich nun gut anließ. Der Computer interessierte ihn tatsächlich und ich habe ihm immer wieder einmal etwas bessere Komponenten vorbeigebracht. Inzwischen ist er nach Deutschland übergesiedelt und hat seit ungefähr zehn Jahren ein Unternehmen. Auch zwei Häuser hat er sich in Zittau gekauft. Aber ich schweife mal wieder ab.

Wäschebeutel fanden den Weg nach Polen. Ein Care Paket brachten wir nach Guatemala auf den Weg, dort wohnt seit 2002 Uwe Ullrich. Der Zoll war ein Abenteuer und über die feierliche Übergabe an das guatemaltekische rote Kreuz berichtete sogar eine dortige Tageszeitung. Mario Schwarze hatte bei Tafel e.V. einen Riesenposten Apfelessig Getränk übrig, den keiner in Deutschland so recht haben wollte. Natürlich haben wir etwas davon nach Polen verteilt. Marischa kannte ja viele Bedürftige. Auch ausgemusterte  Schulmaterialien, Kühlschränke und Waschmaschinen nahmen den Weg nach Polen. Das tut DHH e.V. übrigens bis zum heutigen Tag gelegentlich. Alle sind inzwischen alt und klapprig geworden…

Uwe hat das ganze etwas anders in Erinnerung: Aus dem Nähkästchen in Guatemala geplaudert!
Als ich das letzte Mal Deutschland in Richtung Guatemala verließ, stand
ich mit zwei Koffern auf dem Flughafen in Dresden. In einem waren
persönliche Sachen, im anderen ein Hilfspacket der Deutschen
Humanitären Hilfe e.V. als dessen Vertreter und stellvertretender
Vorsitzender ich nach Guatemala reiste, um dort einen ständigen
Stützpunkt unserer Organisation für Mittelamerika einzurichten.
Da zwei Koffer das zulässige Gewicht überschritten, entschied ich am
Flughafen den Koffer mit meinen persönlichen Sachen bei meiner Frau im
Auto zurückzulassen, die Spenden der Herzapotheke in Zittau erschienen
mir wichtiger. Zollprobleme gab es keine, man akzeptierte das
Empfehlungsschreiben an das Rote Kreuz in Guatemala und auch die
Zollaufstellung anstandslos, wir hatten alles in Deutsch und auch in
Spanisch abgefasst.
Die Ankunft in Guatemala gelang reibungslos und auch der Zoll machte
keiner Probleme, für Spenden und andere Geschenke war man offen,
besonders wenn sie aus Deutschland kamen, da störte auch niemanden das
Ablaufdatum, Hauptsache es waren keine Medikamente, ich wusste das.
Die Klärung der persönlichen Probleme des Aufenthalts in diesem Land
nahm einige Zeit in Anspruch, das schlimmste waren die Sprachprobleme,
meine bei der letzten Reise aufgebauten Verbindungen zur deutschen
Botschaft halfen mir und so verdiente ich als Handwerker ein bisschen
Geld. Meine Hauswirtin in der Hauptstadt arbeitete als Direktorin des
Deutschen Kulturinstituts, für den Kanzler reparierte ich seine Bosch Waschmaschine, für die es hier keine Service gab und machte die
automatische Sicherheitseinrichtung im Eingangsbereich der Botschaft
wieder gangbar, die wahrscheinlich schon Jahre nicht funktionierte.
Eines Tages hatte ich dann ein Gespräch mit dem deutschen Botschafter zu
dem Problem unserer Hilfsorganisation, nachdem ich vorher mich im
Außenministerium über die Formalitäten zur Anerkennung als
Internationale Mission erkundigt hatte.
Kurz und knapp, man stellte mir in Aussicht den Status zu erhalten, wenn
ich eine Empfehlung der Deutschen Botschaft vorweisen könnte.
Der Versuch ist es Wert, dachte ich, etwas verwundert schaute der Herr
Doktor mich an und konstatierte, ich kenne keine internationalen
Hilfsorganisationen nur die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit
(GTZ), aber ich werde mich beim Auswärtigen Amt in Berlin erkundigen.
Gnädig ließ er mich einige Zeit später zu sich rufen und eröffnete mir,
dass er mit Berlin gesprochen hätte und er keine Empfehlung geben dürfte,
weil wir dort nicht bekannt und gelistet wären, man hätte auch mit dem
Vorsitzenden der DHH in Zittau gesprochen, der hätte meine Angaben
nicht bestätigt.
Mensch sagte der Kanzler zu mir, als er das hörte, warum bist du nicht zu
mir gekommen, ich hätte dir das Schreiben gemacht, ohne das
Auswärtige Amt zu bemühen, der Herr Doktor braucht immer
Rückversicherungen, ich dachte mir meinen Teil.
Ich war nicht sauer auf den Herrn Doktor, sondern auf meinen
Vorsitzenden Gerald, ich kannte ihn, beim Anruf des Auswärtigen Amtes
war im sicher schon das Herz in die Hose gerutscht wie schon in anderen
Fällen wie das Röntgengerät und die Krankenhausbetten aus den Görlitzer
Krankenhaus, die ich schon vor meinen Abreise organisiert hatte.
Da gab es schon eine Zusage von einem Transportunternehmen für einen
kostenlosen Transport von Deutschland nach Guatemala.

(Mich hat nie ein Auswärtiges Amt angerufen oder angeschrieben, nur ein bitterböser Brief eines Amtes für Strahlenschutz schlug bei mir auf, ich möge darlegen wo wir das Röntgengerät lagern. Ich konnte damals nur die Vermutung bestätigen, dass sich das Gerät noch in der Praxis von Dr.Paschkow? befindet.)

Das mitgebrachte Spendenpaket übergab ich dann einer Hilfsorganisation
für Aids-Hilfe, die im größten staatlichen Krankenhaus in der Hauptstadt
tätig war.
Der Traum aus Deutschland war ausgeträumt, der Schnee verbrannt und
auch die Verbindung zur Botschaft riss ab, die Suche nach neuen Ufern
begann.
Wenn man sich nicht auf sich selbst verlassen kann, sich auf andere zu
verlassen ist die schlechteste der Lösungen.
Humanitäre Hilfe ist ein zweischneidiges Schwert, ich merkte es etwas
später, als ich in einer Apotheke hier Heftpflaster kaufen wollte, es war
deutsches HANSAPLAST noch mit dem Originalaufkleber „Spende des
Deutschen Roten Kreuzes“ und dem Preisaufdruck, zu dem es verkauft
wurde

Norbert bekam nach einem Lehrgang bei Sapos e.V. in Wirtschaftspolnisch 2001 einen Praktikumsplatz bei DHH e.V. für ein Jahr bewilligt. Er zog nach Luban. Auch die Joli hat er geheiratet. Legendär war seine Zubereitung von Hackepeter. Er hatte sich nämlich eine Philips Küchenmaschine und einen Fernseher in Görlitz gegönnt. Beim Fernseher durfte ich Einkaufsberater spielen und natürlich den Krempel in Luban installieren. Norbert nahm unterdessen die Philips Küchenmaschine in Betrieb. Das Fleisch wurde eingeworfen, es erlangte schnell die Konsistenz von Teewurst. Wir sind dann zum Abendbrot in die Pizzeria gefahren…

2003 feierte ich meinen 40. in etwas größerem Rahmen in der Vereinsgaststätte der Privilegierten Schützengesellschaft Zittau in der Eckartsberger Sandgrube. Neben Familie und “Schützenbrüdern” waren auch viele Ex-Kollegen aus LPG Zeiten, eine Delegation aus Abtswind (ich bin inoffizieller Abtswinder Ehrenbürger), bestehend aus “Manner” Mix und Patrik Hilpert, sowie Roland Hultsch, Uwe Schwanke und Norbert und Jolanta Niegsch erschienen. Olaf Riedel hatte das Catering übernommen. Insgesamt waren ungefähr 120 Leute da. Irgend ein Schnaps muss schlecht gewesen sein, Norbert berichtete über eine kotzende Frau auf der Heimfahrt, während Roland wohl sein Bad putzen durfte. Ich hatte das Vergnügen dann am nächsten Tag, als ich das Schützenhaus aufräumte. Irgend jemand hatte es nicht ganz bis zur Toilette geschafft und den Gang vollgekotzt, aber sonst schwärmen alle noch heute von der Feier…

Einige Zeit später suchte Norbert eine Alternative zur Görlitzer Wohnung. Ich bot ihm 2003 an doch in das Haus meiner Mutter auf der Äußeren Weberstraße in Zittau einzuziehen. Das tat die Familie Niegsch nach Renovierungsarbeiten Ende 2004, eine Nicola war 2001 produziert worden und auch das Sorgerecht für Kamilla war geklärt. Seitdem wohnt er im “Invalidenturm”.

Ich zog 2005 auch dort ein, nachdem mir 2004 in Polen Norbert und Jolis Nachbarin Agnieszka mit ihren zwei Kindern Wiktoria und Natalia zugelaufen war. Agnieszkas Lubaner Wohnung war ein ausgebautes Dachgeschoss, welches aus einem Zimmer und zwei Dachschrägen, eine davon als Küche genutzt und die andere als Kinderschlafzimmer, bestand. Es sollte neue Wasser und Abwasserleitungen erhalten und Natalia hatte das Vorschuljahr beendet. Das ganze Renovieren könnte bis zu einem halben Jahr dauern, hieß es. In der “Küche” bröckelte der Putz von der Dachschräge. Agnieszka hatte keinen Job und jeder Toilettengang war ein Abenteuer. Die Toiletten befanden sich nämlich in einem Schuppen neben dem Haus. Mit Wasserkanne zum Spülen. Ein Bad oder Dusche gab es nicht. Agnieszka erledigte das in einer blauen Plasteschüssel in ihrer “Küche”.

Wir haben also den Vertrag beendet und kurzerhand geheiratet, damit der Daueraufenthalt in Deutschland möglich wurde und Natalia in Deutschland eingeschult werden konnte. Auch Norberts Stieftochter Kamilla wurde im September 2005 in der Lessing Grundschule in Zittau eingeschult. Polen trat ja erst 2011 der EU bei. Die zwei “unheiligen Schwestern” Jolanta und Agnieszka machten ab 2005 ihre Einkaufstouren gemeinsam. Joli hatte nämlich den Führerschein geschafft und ich hatte eine “Pommeranze”. Die “Pommeranze” war ein 609er Mercedes mit Doppelkabine und Pritsche in Baustellenorange. Norbert übernahm Versicherung und TÜV. Die Nahrungssuche fand in der Regel in Bogatynia statt. 

Ich durfte die beiden “großen” Kinder meist zum katholischen Religionsunterricht chauffieren. Das war bis zur Kommunion ganz wichtig. Es gab nichts wichtigeres. Auch manchen Sonntag durfte ich katholisch beglückt dort verbringen. Erst Andacht und hinterher gemeinsame Bastelstunde neben der Kirche. Nach der Kommunion von Natalia und Kamilla war der ganze katholische Mist dann plötzlich unwichtig geworden.

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Ende 2008 habe ich dann mein polnisches Abenteuer beendet, Agnieszka lebt seitdem in Görlitz, Wiktoria ist der Handballstar bei Koweg Görlitz und Natalia erzählte mir vor vier Jahren von Studienplänen in Dresden.
Norbert ließ sich Anfang 2009 scheiden.

 

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Über Gerald Fontaine 1712 Artikel
In Anlehnung an Annalenas Lebenslauf: Gerald wurde in Zittau geboren. Er studierte zunächst an der Polytechnischen Oberschule 10 Jahre lang den glorreichen Sieg der Oktoberrevolution und die Vorzüge der Diktatur des Proletariats...... steckbrief-fuer-das-publikum Ja, das isses. Informatiker mit polnisch zuerkanntem Doktortitel, sozial engagiert, Journalist, Politiker, Jurist, Wirtschaftskapitän. Wählt mich! Ich hab die Haare schön. Auch zu finden bei Publikum

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